Strand, Watt und Meer machen den Reiz der ostfriesischen Küste aus. Doch was, wenn man auf einen Rollstuhl angewiesen ist? Lohnt sich ein Urlaub an der Nordsee dann überhaupt? Ist man immer nur dabei statt mittendrin? Reise-Blogger
Hans-Jürgen Rohe hat es in Norddeich ausprobiert.
Schon seit Kindertagen bin ich, bedingt durch die zahlreichen Besuche bei meinen Großeltern während der Sommerferien, mit dem Nordseevirus infiziert. Mittlerweile jedoch, deutlich reifer an Jahren und inzwischen auf einen Rollstuhl angewiesen, war ich skeptisch, ob ich mit dieser Einschränkung erneut eine Zeit in dieser Region verbringen sollte. Verstärkt wurde dies auch durch die Meinung Dritter. Aber letztendlich macht nur der Selbstversuch klug, um sich ein authentisches Urteil zu bilden. Also nahm mein kleines Abenteuer seinen Lauf und es ging an die Nordseeküste!
Aber von Anfang an… Gerade angekommen, die Tasche kaum ausgepackt, wuchs spürbar die Neugier und ich konnte bei traumhaftem Wetter nicht lange der Versuchung widerstehen, dem Küstenabschnitt bei Norddeich einen Besuch abzustatten. Nach kurzer Etappe war der Deich erreicht und ich wurde direkt auf das Angenehmste überrascht: geschickt angeordnete Auffahrten mit geringer Steigung und ausreichender Breite ermöglichen die problemlose Überquerung des Deiches. Dazu verständliche Schilder. Bei der Konzeptionierung der Zuwegungen hat man auch seheingeschränkte Menschen nicht vergessen, denn in den Bodenbelag sind Leitstreifen eingelassen – absolut vorbildlich! Der Tourismus-Service Norden-Norddeich hat sich das Thema Barrierefreiheit auf die Fahnen geschrieben – und umgesetzt. Bereits jetzt tauchten erste Zweifel an meinen Vorurteilen auf.
Und dann, auf dem Deich mit dem ersten Blick auf das ausgedehnte Wattenmeer, nahm mich erneut der Nordseevirus in den Bann – ein Gefühl, das ich so lange vermisst hatte! Das Staunen über die Gestaltung des Areals setzte sich bei der weiteren Erkundung fort: keine unbezwingbaren Sandwege, die einen Rollstuhl versinken lassen, stattdessen gut ausgebaute Wege, die es ermöglichen, problemlos bis an die Wattkante zu rollen.
Darüber hinaus zieht sich die neu gestaltete „Wasserkante“, die künftig „Das Deck“ heißt, über einen langen Streckenabschnitt hin, der zum ausgiebigen Flanieren einlädt, der immer wieder sehenswerte Ausblicke auf das Wattenmeer gestattet und es an einigen Stellen sogar ermöglicht, bis an das anschlagende Wasser zu fahren und sowohl Watt als auch Salzwiesen in Augenschein zu nehmen.
Aber da die nähere Erkundung ohnehin für den Nachmittag geplant war, wurde es nun erst mal Zeit, ein leckeres Fischbrötchen in der würzigen Nordseeluft zu genießen. Frisch gestärkt umrundete ich völlig entspannt die weitläufigen Strandkorbanlagen. Dabei entdeckte ich auch mehrere großzügig angelegte Bohlenwege, die zum Teil auf eine Plattform münden, von wo man einen Ausblick auf die Küstenlandschaft aus erhöhter Position hat. Klar, dass ich erst mal nach Herzenslust die Wege ausgiebig befahren habe, wobei dabei etwas Aufmerksamkeit vonnöten ist, denn bisweilen sind auf den Wegen Sandverwehungen, die jedoch in kurzen Abständen immer wieder beseitigt werden. Nicht unwichtig: Am Rand des Geländes befinden sich gut platziert moderne und durchdachte Sanitäranlagen mit einem separatem Zugang für Rollifahrer mittels Euroschlüssel.
Watt‘n Erlebnis
Mit dem Wattmobil der Seehundaufzuchtstation Norddeich kann Hans-Jürgen den Meeresboden bei Ebbe erkunden. Wattführer Uwe schiebt ihn über eine Rampe bis ans Wasser und dann weiter durchs Watt, wo es einiges zu entdecken gibt.
Dann bahnte sich ein wahres Highlight an: Bis dato war ich der Meinung, die faszinierende Welt des Wattenmeeres ist für Rollstuhlfahrer ein unerreichbares Terrain. Doch ich wurde eines Besseren belehrt, denn mit einem „Wattmobil“ ist auch diese Hürde relativ leicht zu überbrücken. Die Seehundaufzuchtstation Norddeich, die auch Wattführungen anbietet, stellt ein solches zur Verfügung. Unmittelbar an der Schräge der Wasserkante setzte ich mit Unterstützung des Wattführers Uwe in das Gefährt um und drehte eine ausgiebige Runde durchs Watt. Offen gestanden hatte ich mir diese Exkursion schwieriger vorgestellt, aber die fachkundige Begleitung versicherte mir, dass die Ballonreifen zum einen das Einsinken in den weichen Boden verhindern und zum anderen den Kraftaufwand beim Schieben deutlich reduzieren. Zusätzlich mit einer Forke ausgerüstet, war ich auch in der Lage, durch das Graben im Schlick die enorme Artenvielfalt des Wattenmeeres zu erleben. Kein Wunder, dass das Wattenmeer auch bei den vielen Vogelarten sehr beliebt ist, denn Nahrung gibt es hier reichlich.
Watt‘n Schlick
Ich konnte Wattwürmer und Schnecken auf meiner Handfläche ausgiebig beobachten und bekam dabei die Besonderheiten des Wattenmeeres ausführlich erläutert – verständlich, dass dieser Teil der Nordsee den Titel „Weltnaturerbe“ trägt. Die Fahrt über den Meeresboden war ein ganz besonderes Erlebnis. Dazu ließen die mit Schlick verschmierten Hände erneut Kindheitserinnerungen wach werden, so schloss sich wieder der Kreis. An den verschiedenen Duschmöglichkeiten an der Wattkante waren die Hände auch schnell wieder abgespült.
Und wie immer, wenn es besonders schön ist, verging die Zeit wie im Flug. Zum Schluss gönnte ich mir noch eine Pause im rollstuhlgerechten Strandkorb, um die vielen Eindrücke Revue passieren zu lassen. Der überbreite Strandkorb hat eine Nische, in die ich mit dem Rollstuhl hineinfahren und von dort auch in Eigenregie umsetzen konnte, um das Feeling zu genießen. Ein barrierefreier Strandkorb – ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt! Zugegeben, die Zufahrt ist noch nicht ganz optimal, aber schon sehr nah dran.
Kurzum, die Vorurteile wurden sukzessive abgebaut und auf die weiteren Tage in der Region freute ich mich bereits, denn es gab noch vieles zu entdecken. Ich besuchte zahlreiche kleine Häfen, die nur einen Katzensprung vom Strand entfernte Seehundstation und nahm an einer Teezeremonie im Ostfriesischen Teemuseum Norden teil. Entspannte und erlebnisreiche Tage an der Nordseeküste.
Ein Go für Rolli-Fahrer
Mein Fazit: Der gesamte Norddeicher Streckenabschnitt ist für Rollstuhlfahrer problemlos zu befahren, auch die Kurven an den Aufgängen sind ausreichend bemessen, sodass auch der Nutzung mit Hand-Bike und Zuggerät nichts entgegensteht, eine gute Beschilderung rundet die Konzeption der Verkehrswege gelungen ab. Möglichkeiten zur Einkehr gibt es viele und sie sind leicht zu erreichen. Die Toilettenanlagen sind etwas abseits vom Strandgeschehen positioniert und gut ausgestattet. Sämtliche Steigungen sind sehr moderat angelegt, sodass sie auch mit manuellen Rollstühlen befahrbar sind. Außerdem ist das Personal im Bereich der Wasserkante sehr aufmerksam und hilfsbereit. Insofern bleibt zum Schluss die Frage, warum habe ich mich von Vorurteilen beeinflussen lassen? Denn eins steht fest: Ich werde auf jeden Fall wiederkommen und kann nur jedem empfehlen, Norddeich einmal in Eigenregie zu erkunden.